"Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch."
Friedrich Höderlin
|
8.
Welche Schulfächer sind die wichtigsten? „Wissenschaftlich gesehen, wären die wichtigsten Schulfächer Musik, Sport, Theater-spielen, Kunst und Handarbeiten“, findet der Ulmer Neurowissenschaftler Manfred Spitzer. Nach bald drei Monaten Home-Schooling stellen wir Eltern fest, dass zumindest diese spezifische wissenschaftliche Erkenntnis noch nicht ankam im Corona-Alltag; die Schüler*innen werden auf zahlreichen Bildschirmkonferenzen bei nahezu exklu-sivem Fokus mit sogenannten „Hauptfächern“ konfrontiert. Außerschulische Aktivi-täten wie Workshops oder Theaterbesuche im Klassenverband sind pauschal abge-sagt. No comment. ... Viktor Schoner, Intendant der Stuttgarter Staatsoper
Juni 2020
|
7.
„Die Virologen“ – frei nach Dürrenmatt von Moritz Rinke Am Ende müssen alle Experten in die Irrenanstalt – bis auf einen Dürrenmatt wollte mit „Die Physiker“ den Wahnsinn des Kalten Krieges zeigen. Nun haben wir Corona. Skizzen für eine neue Komödie im alten Stil. |
Moritz Rinke lebt als Dramatiker und Schriftsteller in Berlin. Zuletzt wurde von ihm am Deutschen Theater Berlin das Stück „Westend“ uraufgeführt. In dem Stück „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt lassen sich drei Wissenschaftler in eine psychiatrische Anstalt einweisen. Der erste, Möbius, hat die Atombombe erfunden, hält aber die Menschheit nicht für reif für seine wissenschaftliche Erkenntnis und täuscht Wahnsinn vor. Alec J. Kilton ist auch Physiker, gehört aber eigentlich zum westlichen Geheimdienst, um an das Wissen von Möbius zu kom-men. Der Dritte im Bunde, Ernesti, ist vermutlich von den Russen und will dasselbe. Es ging dem Schweizer Dramatiker Dürren-matt 1962 um den Kalten Krieg. Ich habe nun ein neues dramatisches Exposé entworfen, wir haben keinen Kalten Krieg mehr, wir haben Corona, das Stück heißt jetzt, frei nach Dürrenmatt „Die Virologen“. Bei Möbius habe ich sofort an den Charité-Virologen Christian Drosten gedacht, der sich in die Anstalt zurückzieht, weil er in einer Studie etwas herausgefunden hat, das unermessliche Folgen haben könnte, so ähnlich wie eine Atombombe. Da er aber sich und seine Familie vor der Veröffentlichung dieser unglaublichen wissenschaftlichen Erkenntnis schützen muss (Morddrohungen, Social Media), gibt er also lieber vor, wahnsinnig zu sein. Bei Alec J. Kilton hatte ich sofort eine Vision: Alexander S. Kekulé, der Hallenser Virologe und Biochemiker, den wir alle aus dem Fernsehen kennen. Vielleicht ist er nicht mehr Agent eines westlichen Geheimdiensts, sondern Agent der „Bild-Zeitung“. Dürrenmatt nennt solche dramatischen Zuspitzungen „die schlimmstmögliche Wendung“. Hintergrund ist natürlich diese fiese, unwissenschaftliche Kampagne der „Bild“ gegen Drosten und dessen Studie über die Infektiosität von Kindern, die Kekulé ebenfalls scharf kritisierte. Bei der Recherche habe ich herausgefunden, dass Alexander S. Kekulé, so sagen die anderen Virologen, schon seit Ewigkeiten nichts mehr selbst er-forscht habe und sich gewissermaßen nur als Virologe inszeniere. Weil: Wer momentan Virologe ist, der wird erhört. Kekulés Vater war Regisseur und hat „Peterchens Mondfahrt“ verfilmt (die Abenteuer des Maikäfers Sumsemann), die Mutter schrieb Drehbücher („Mor-gen in Alabama“, „Die furchtlosen Vier“ mit Mario Adorf), da fällt der Apfel nicht weit vom Stamm. Der Sohn ging auch auf eine Waldorfschule, da kommt man früh mit Märchen und Theater in Verbindung. Ich war schließlich auch Waldorfschüler, und man glaubt gar nicht, was wir in der 12. Klasse gespielt haben: „Die Physiker“. In meiner neuen Komödie ist mittlerweile ein schlimmer Konkurrenzkampf unter den Virologen in der Anstalt ausgebrochen, den die Pfleger für schlim-mer halten als das Virus selbst. Wer war öfters in den Talkshows? (Kekulé, in allen) Wer hat die meisten Views bei Youtube? (Drosten) Wer hat den beliebtesten Podcast? (Drosten) Wer influenct die Kanzlerin? (wieder Drosten) Wer führt insgesamt im Virologen-Presse-Ranking? (Eindeutig Drosten) Mein kekuléhafter Scheinvirologe stürzt sich also hasserfüllt auf meine drostische Möbius-Figur, auch im Auftrag von „Bild“. Und jetzt kommt Ernesti noch dazu, der Dritte, da hatte ich an den SPD-Epidemiologen Karl Lauterbach mit der roten Fliege gedacht, ich nenne ihn „Karlchen überall“, der auch in je-der Talkshow sitzt, den würde ich aber jetzt noch besessener dar-stellen. Ich würde auch immer weitere Virologen einliefern lassen: so einen jüngeren aus Bonn, der aussieht wie der Typ aus „50 Shades of Grey“, kommt aber im Auftrag von Armin Laschet, CDU, was wiederum sehr nah an Friedrich Dürrenmatt ist. Dann kommt noch eine schöne Virologin aus Braunschweig, und sogar Verschwörungstheoretiker lassen sich einweisen: Typen wie dieser weißhaarige Lungenarzt Wodarg (Das Virus gibt’s gar nicht!), der sich auf Lauterbach stürzt und ihm die Fliege ab-reißt. Der Armin-Laschet-Entsandte stürzt sich auch auf Karlchen überall und auf den drostischen Möbius, dem die Irrenärztin ret-tend beispringt, da hatte ich, na klar, an eine Angela-Merkel-Figur gedacht, die wiederum von völlig zu Recht eingewiesenen Reichsbürgern und Impfgegnern attackiert wird, die per-manent „Bill Gates, Bill Gates!“ brüllen. Es geht drunter und drüber, niemand achtet mehr auf Abstände, man sieht noch die merkelhafte Irrenärztin mit einem Zenti-metermaß, das ihr aber von Wodarg entrissen wird. Mittendrin mein kekuléhafter Scheinvirologe (kekulesk, Kafka?), der inter-viewt wird von ARD und ZDF. Anne Will und Markus Lanz sind auch in der Irrenanstalt. Plasberg drängelt sich noch rein, hart aber fair. Das Schlimmste, sagte Dürrenmatt, kann nur in der Komödie dargestellt werden. Am Ende lasse ich meine drostische Möbius-Figur eine wegweisende Entscheidung treffen. Er beschließt, nicht mehr den Wahnsinn vorzutäuschen, sondern diesen einzigartigen Planeten mithilfe der Wissenschaft zu retten. Zusammen mit der bundesrepublikanischen Irrenärztin verkündet er in der „Bild-Zeitung“ den Lockdown der Gesellschaft für 25 Jahre. Die letzten Worte hat Dürrenmatt: „Denn sonst werde die Menschheit in den Wüsten des Mondes im Staub versinken, in den Bleidämpfen des Merkurs verkrochen, sich in den Ölpfützen der Venus auflösen.“ Vorhang! Jetzt muss ich nur noch ei-nen Regisseur finden, der das mit „Safer acting“ inszeniert. Und ich brauche Publikum! Moritz Rinke
|
6.
Traumverlorenes Abgleiten Theater (wieder) lesen: „Santa Cruz“ von Max Frisch „Ein faszinierendes Traumspiel“ (Zürich 1946) und „Das wäre selbst Courths-Mahler zuviel“ (München 1951). So unterschiedlich wurde Max Frischs zweites Stück „Santa Cruz“ in der Presse rezipiert. Nun ist Neugier geweckt, sich selber ein Urteil zu bilden. Im Moment geht das am besten durch Nachlesen. Und dazu möchte ich anregen, zumal das Stück kaum auf einer Bühne erscheint. Das Vorspiel führt in eine Dorfpinte, in der der Vagant Pelegrin sehn-süchtig von einer Liebschaft singt, die 17 Jahre zurückliegt. Er will seine Geliebte, die inzwischen mit dem Rittmeister im Schloss des Ortes lebt, wieder sehen und verschafft sich Eintritt. Es ist Winter, bitterkalt und es liegt Schnee. Der erste Akt spielt im Schloss. Dort sitzt der Vagant mit dem Gesin-de in der warmen Küche und schwadroniert von abenteuerlichen Er-lebnissen aus exotischen Ländern. Der Rittmeister erfährt davon, sin-niert deshalb mit seiner Frau Elvira über gemeinsame alte Erinnerun-gen. In Santa Cruz hatten sich einst beide entgegen eigenen Wun-sches nicht hinreißen lassen, mit einem Abenteurer nach Hawaii auf-zubrechen. Der Rittmeister lädt den Vaganten zum Abendessen ein. Als Elvira Pelegrin sieht, verlässt sie fluchtartig den Raum, hat sie in ihm doch ihren ehemaligen Liebhaber von damals erkannt. Der Va-gant spricht angeregt von seinen Erlebnissen, bis schließlich der Ritt-meister meint, ihn zu kennen. Der zweite Akt spielt auf dem Achterdeck eines Schiffs. Matrosen schäkern mit Pedro, einem allegorischen Wahrheitspoeten. Der er-zählt, dass vor 17 Jahren der Kapitän die Frau eines Rittmeisters in seine Kajüte getragen habe. Heute sitze der im Schloss an einem Tisch mit dem Rittmeister, dessen Frau beim Betreten des Essraums diesen wieder fluchtartig verlassen habe. Alte Erinnerungen stellen sich ein, und Traumgeschehen verwandeln sich in Realität. Der Kapi-tän ruft auf zur Weiterfahrt. Elvira ist an Bord und durchlebt noch-mals die Vergangenheit, ihren wiederholten Traum. Im dritten Akt diktiert der Rittmeister mitten in der Nacht einen Ab-schiedsbrief, lässt den Schlitten vorfahren und verlässt das Schloss. Auch er will sich noch einmal seinen Sehnsüchten hingeben, bevor das Schloss im Schnee versinkt. Der vierte Akt führt nach Santa Cruz. Im Hafen macht Elvira Pelegrin klar, dass sie mit ihm nicht weiterfahren, mit ihm hingegen ein Kind haben, sesshaft werden und heiraten möchte. Der Rittmeister trifft auf seiner Sehnsuchtsreise in Santa Cruz ein und will mit Pelegrin die anstehende Schiffstour antreten. Elvira bleibt nur die vage Hoffnung auf eine Rückkehr irgendwann und bricht zusammen. Der Rittmeister fängt sie auf, das Schiff legt ohne beide ab. Die auseinanderdriften-den Lebensentwürfe im winterlichen Schloss und in warmen Gewäs-sern nehmen ihren Lauf. Der fünfte Akt - wie schon der erste – spielt im Schloss. Ein Diener berichtet der Schlossherrin von der nächtlichen Abreise ihres Mannes. Ihre Furcht ist groß, er habe durch Pelegrin von ihrem Verhältnis er-fahren. Entsprechend ungehalten ist sie über sein morgendliches Er-scheinen und macht ihm unmissverständlich klar, glücklich verhei-ratet zu sein. Pelegrin ist beeindruckt vom Bildungsambiente und spielt ein paar Töne auf dem Klavier. Tochter Viola erscheint, und zeitgleich kündigt Schlittengeklingel die Rückkehr des Rittmeisters an. Pelegrin ereilt der plötzliche Tod. Doch sein Kommen führte zum Er-kenntniskanon: „Die Liebe ist größer, die Treue tiefer, sie muss unsere Träume nicht fürchten, wir müssen die Sehnsucht nicht töten, wir müssen nicht lügen.“ Der Rittmeister tröstet Elvira mit Pelegrins Wor-ten: „Ich verwünsche nichts, was ich erlebt habe, und nichts, was ich erlebt habe, wünsche ich noch einmal zurück.“ Einer Trauergemeinde gleich erscheinen aus dem Dunkel Wegbegleiter aus Pelegrins Leben und verabschieden sich jeweils mit einem Satz von ihm. Der Vorletz-te ist der Tod, und die Letzte ist Viola, die erklärt, Pelegrins Tochter zu sein, die nun am Beginn der Lebenerfahrungen alles von neuem er-fährt. Sein Name deutet darauf hin: Pelegrin (Pellegrino) befindet sich auf seiner „Pilgerreise“ durchs Leben. Er ist nicht aufzuhalten. Denn für ihn ist sein Unterwegssein ein fortwährender Zieleinlauf in die Selbst-findung, in die Erfahrung von Freiheit und Glück. Antagonismen pral-len aufeinander: Realität – Traum, Konvention – Freiheit, Bürgerexis-tenz – Künstlerexistenz, Erwartung – Selbstfindung, Nord – Süd, Kälte – Wärme. Die daraus resultierende Spannung durchzieht das Stück in zart-poetischem Ton und verleitet zeitweilig zu eigenem traumverlo-renem Abgleiten. |
Wolfram Brüninghaus
5.
The Unanswered Question Fragen über Fragen drängen sich uns auf, angesichts der seltsamen Zeit, in der wir leben. Die Sehnsucht nach dem Kontinuum, dem Unveränderlichen, ist stark gewachsen. Wir brauchen neue verbindende Utopien und Visionen. Musik und Literatur begleiten uns. Der amerikanische Komponist Charles Ives verhandelt in seinem Orchesterwerk „The Unanswered Question“ (1908) „die ewige Frage nach der Existenz“ - auf die es bis zum Schluss keine passende Antwort gibt. Genau im richtigen Moment erreichte mich folgender Text von Rainer Maria Rilke und erfüllt mich mit Zuversicht: „Habe Geduld gegen alles Ungelöste in deinem Herzen und versuche, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forsche jetzt nicht nach den Antworten, die dir nicht gegeben werden können, weil du sie nicht leben kannst. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Lebe jetzt die Fragen. Vielleicht lebst du dann allmählich, ohne es zu merken, eines Tages in die Antwort hinein.“ (Quelle: Rainer Maria Rilke, Briefe an einen jungen Dichter, 1903-1908) Und womöglich heißt es dann: Question Answered.
Katharina Bönisch, 8.05.2020
|
4.
Theater (wieder) gelesen: „Die Macht der Gewohnheit“ Wer je Erzählungen oder Prosa von Thomas Bernhard gelesen hat, weiß, worauf er sich einlässt, wenn er eine, seine erste, Komödie liest, 1974 von der Bibliothek Suhrkamp herausgegeben. Mit einem Tritt befördert er den Leser in das Stück bzw. in die Manege, und das Lachen kann einem schon vergehen im Kreislauf der Lektüre dieses Dreiakters. Caribaldi, Zirkusdirektor, hat es sich in den Kopf gesetzt mit seinen Ensemblemitgliedern, einem Jongleur, einem Dompteur, einem Spaßmacher und seiner Enkelin, eine Aufführung des Forellenquintetts von Franz Schubert zustande zu bringen: „Ein Künstler / der eine Kunst ausübt / braucht eine zweite Kunst“, sagt zu Anfang Caribaldi. Und weil alle seine Kombattanten ein fürs Quintett erforderliches Instrument spielen, versuchen sie nun schon seit 21 Jahren über den Probenstatus hinauszukommen. Caribaldi: „Wenn es nur einmal / nur ein einziges Mal gelänge / das Forellenquintett / zu Ende zu bringen / ein einziges Mal eine perfekte Musik“. Vergebliche Liebesmüh! Denn jede Probe gerät zum Fiasko oder zur Sabotage eines Mitspielers: „Die letzte Probe ist ein Skandal gewesen / Das möchte ich nicht mehr erleben / spielt den tiefsten Ton lange / Einen betrunkenen Dompteur / dem es Mühe macht auf den Beinen / einem Spaßmacher dem fortwährend die Haube vom Kopf fällt / eine Enkelin, die mir durch ihre Existenz allein auf die Nerven geht / Die Wahrheit ist ein Debakel“. Ohne Punkt und Komma drehen sich die jeweils sprechenden Akteure im Kreis, schraubt und verrennt sich der Zirkusdirektor in seine Lamentos, sein Selbstmitleid, die Attacken auf seine unfähige Kompanie: „Immer ist einer darunter / der alles zerstört / durch eine Unachtsamkeit / oder eine Gemeinheit“. Am liebsten würde er das Quintett alleine spielen. Jeder steckt in seiner Rolle fest. Insofern hat diese Komödie immer auch Tragik. Keiner will wirklich dieses Forellenquintett – aber aus der Nummer kommen sie einfach nicht raus. Da hilft auch nicht das Trostbonbon in Form der Zukunftsperspektive „Morgen in Augsburg“ oder „Morgen Augsburg“, ohne dass je ausgesprochen wird, was sie denn morgen in Augsburg erwartet. Die Feststellung durchzieht das Stück mehr als dreißigmal, oft unvermittelt, genau wie der Bezug auf den berühmten Cellisten Casals oder das Kolophonium zum Einstreichen der Saiten oder willkürlich gestrichene Töne auf den Saiteninstrumenten. Absurdistan liegt immer in Reichweite. Caribaldi zum Jongleur: „Die Wahrheit ist / Ich liebe das Cello nicht / aber es muss gepielt werden / meine Enkelin liebt die Viola nicht / aber sie muss gespielt werden / der Spaßmacher liebt die Bassgeige nicht / aber sie muss gespielt werden / der Dompteur liebt das Klavier nicht / aber es muss gepielt werden / Und sie lieben ja auch die Violine nicht / Wir wollen das Leben nicht / aber es muss gelebt werden / Wir hassen das Forellenquintett / aber es muss gespielt werden...“ Da versteigt sich der Zirkusdirektor in die höheren Gefilde über die wahre Kunst oder den Selbstbetrug mittels der Kunst. Der Sturz des Ikarus! Zu Beginn der zweiten Szene sitzt der Dompteur mit dick einbandagiertem linken Arm, weil von einem Löwen gebissen, am offenen Klavier, Brot, Wurst und Rettich essend und redet mit dem Spaßmacher, dem er ab und an wie einem Tier einen Bissen zuwirft. Der eher dem Rettich und Bier zugeneigte Dompteur hat also einen guten Grund, wieder einmal die anvisierte Probe zu verunmöglichen, was er dadurch demonstriert, dass er mit dem bandagierten Arm immer wieder in die Tasten haut. Caribaldi kennt sowas: „Die Probe findet statt / Und wenn ich sie alle mit Fußtritten / an ihre Instrumente treten muss / Wer nicht probt, erreicht nichts / wer nicht übt / ist nichts / man muss unaufhörlich proben...“ Am Ende zieht er dennoch den Kürzeren. Die Probe verliert sich in läppischen Nichtigkeiten. Auch in der dritten Szene, kommt sie nicht vom Fleck, der Dompteur ist abwesend, wenn anwesend, verbreitet er seinen Rettichgestank, die Enkelin bohrt in der Nase (Das ist abstoßend / während des Forellenquintetts / in der Nase zu bohren), der Jongleur hustet ins Andante hinein, dem Spaßmacher fällt immer zur Unzeit die Haube vom Kopf. Lösungen? Fehlanzeige! Das Stück endet im Furor von Schuldzuweisungen, Verhaltenauffälligkeiten, einem entfesselt in die Tasten hauenden Dompteur (der Kunstzertrümmerer) und dem Klageruf des Zirkusdirektors: „Die Bestien zertrümmern / die Kunst / hören Sie / die Kunst wird zertrümmert“. Er lässt sich ins Fauteuil fallen und den Kopf sinken. Sein letztes Wort: „Morgen Augsburg“. Er dreht das Radio neben sich auf. Aus dem Radio das Forellenquintett. Fünf Takte. Ende. Das Stück habe ich schon vor 35 Jahren in einem Zug gelesen, jetzt wieder. Lustig finde ich es ganz und gar nicht. Die Macht der Gewohnheit macht aus uns leider auch Gewohnheitstiere, und das ist bei näherem Hinsehen oft nicht schmeichelhaft. Und was es bedeutet, wenn alte Gewohneiten aufbrechen, erleben wir ja gerade hautnah. Im Internet gibt’s jede Menge Infos, Aufführungsausschnitte (u. a. von den Salzburger Festspielen) und Rezensionen dazu. Früher hatte ich mal so ne Idee: Eine Laienschauspielergurkentruppe probt das Stück „Die Macht der Gewohnheit“ von Thomas Bernhard und träumt davon, damit mal groß rauszukommen. Doch da wird nix draus, weil jede Probe in Streitereien, Eitelkeiten, Interpretationsdisputen, Rollenspielchen und grässliches Dilettantentum eskaliert. Aber meine Idee ist noch nicht mal zu einem Probenansatz geronnen. Scheitern, immer wieder scheitern, besser scheitern! Es grüßt alle PAKSler Armin Meisner-Then |
3.
Theater lesen – warum nicht? „Programm, wer möchte ein Programm, Schokoladeneis? … Meine Damen und Herren. Einen Augenblick Ruhe. Ich bitte … Es ist sehr wichtig. Die Herrschaften, die keine Sitzplätze haben, werden gebeten, die Durchgänge freizugeben. Ja, so. Geben Sie den Weg frei, meine Herrschaften. Wer keinen Sitzplatz hat, kann sich an die Mauer anlehnen … Sie werden alles sehen, alles hö-ren … .“ Wie sehr wünschen wir uns wieder solche Situationen herbei! Wir, die wir im Moment auf kulturelle Gewichtsreduzierung gesetzt, und die Kulturschaffenden ausgebremst sind. Ein Herbeisehnen von Publikum ist Kern der tragischen Farce „Die Stühle“ (sh. Anfang) von Eugène Ionesco. Ich empfehle, dieses Stück zu lesen. Der Einakter ist ein „Klassiker“ des absurden Theaters, ist trotzdem anrührend, spannend und entlässt seine Leserinnen und Leser mit bedrückenden Bildern eines verpassten Lebens voll unerfüllter Sehnsüchte, zerstörter Illusionen und einem Schluss, der im wahrsten Sinne noch lange nachhallen wird. Foto: Edi Baumann
Ein altes, einsames Paar lebt in einem vom Wasser umgebenen Haus. Um der Einsamkeit zu entfliehen, erzählen sie sich Ereignisse aus ihrem Leben. Doch immer wieder führt der Austausch zum Resümee, er habe es in seinem Leben zu nichts gebracht, und sie sei zu ehrgeizig. Er glaubt, eine Botschaft an die Menschheit zu haben, die das Leben aller verändern werde. Dafür hat er allerdings einen professionellen Redner engagiert, der ungeduldig erwartet wird. Die Verkündigung soll vor illustren Gästen geschehen. Die treffen nach und nach ein: eine Dame, ein Oberst, eine Schöne, ein Photograveur, ein Journalist, … Für alle schleppt sie unentwegt Stühle heran. Die Gäste bleiben jedoch unsichtbar, obwohl mit ihnen angeregter Smalltalk betrieben wird. Letzter Gast ist Seine Majestät, der Kaiser. Alle erwarten nun noch den Redner, der die Botschaft des Alten verkünden soll. Er kommt und steht bereit. Das Paar sieht sein Leben erfüllt und seine Sendung beendet: „Wir hinterlassen Spuren, denn wir sind Menschen und keine Städte … Wir bekommen unsere Straße … Es lebe der Kaiser!“ Mit diesen Worten springen beide aus dem Fenster ins Wasser. Und der Redner hebt an zu sprechen …
Den Ausgang des Stücks verrate ich nicht. Möge die Spannung zu eigenem Lesen anregen und das Theatererlebnis bis zum Fallen des Vorhangs im eigenen Wohnzimmer sein Ende finden! Wolfram Brüninghaus, 27.03.2020
|
2.
Freilaufen Schritt für Schritt an Mühlbach und Isar entlang, vorbei am Müllerschen Volksbad, den selben Weg seit Jahren. Verspannungen lassen nach mit jedem Schritt. Golden strahlt der Friedensengel, den Ölzweig in der Hand. Weiterlaufen.
Schritt für Schritt freilaufen. Da ist er, mein Baum mit der eingekerbten Wunde. Mit einem Lächeln erinnere ich Sergej Jessenins Gedicht: Mein Sehnen ist bescheidener geworden. Ist das mein Leben oder träumte mir von dir? Mir war, als trüge mich ein rosafarbenes Pferd durch einen klaren Frühlingsmorgen. Weiterlaufen.
Und atmen und wohl sein und Freude spüren. Über den Fluss, in den Englischen Garten, zum Chinesischen Turm. Altbekanntes in neuem, fremdem Licht. Weiterlaufen.
Am Bogenhausener Friedhof den Freund besuchen. Verweilen. Zwiesprache halten. In der Stille Gelassenheit finden. Weiterlaufen.
Verschlungene Pfade im Park. Verwaiste Philharmonie... Ja, ich kann sie hören die Musik... Ausatmen. Tief ausatmen. Ankommen.
Denkend und fühlend dem Jetzt stellen. Aushalten. Halt finden in dieser so seltsamen Zeit. Katharina Bönisch, 27.03.2020
|
1.
Unser Leben hat sich nach innen gewendet. Wir verbringen viel Zeit in den eigenen vier Wänden. Und da Kultur ein Lebensmittel ist, nützen wir (neue) Möglichkeiten der Begegnung. Friedrich Hölderlins 250. Geburtstag gibt Anlass, zwei Zeilen aus seiner Hymne „Patmos“ als Leitgedanken durch die angespannte Zeit zu empfehlen. Dabei wäre es doch auch gleich angebracht, einige seiner großen Gedichte erneut zu lesen. So rate ich, vielleicht folgende Preziosen aufzuschlagen, deren Aneignung leichter gelingt als bei anderen: „Der Spaziergang“, „Hälfte des Lebens“, „Die Heimat“ oder „Lebenslauf“. Entdeckungen sind garantiert.
Wolfram Brüninghaus, 20.03.2020
|