65. Theatertage der bayerischen Gymnasien in Kaufbeuren
Berichte von Wolfram Brüninghaus
Im letzten Sommer besuchte ich die 65. Theatertage der bayerischen Gymnasien in Kaufbeuren. Zwei Aufführungen haben sich in meinem Gedächtnis in besonderer Weise als beachtenswert festgesetzt. Davon will ich hier erzählen:
Nur noch kurz die Welt erschaffen
Metamorphosis
Unter- und Oberstufentheatergruppe des Reuchlin-Gymnasiums Ingolstadt
unter Leitung von Christian Albert
In einer Stunde die Welt erschaffen und danach sogar noch einen bedrückenden Ausblick auf den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen zu geben, war das in vielfacher Hinsicht ungewöhnliche Theatererlebnis, das die Gruppe aus Ingolstadt bescherte.
Ungewöhnlich der Raum: klein, im Keller gelegen. Ungewöhnlich die Platzierung des Publikums: verteilt über die Aktionsfläche auf Sitzhockern. Ungewöhnlich die Bühnengestaltung: aufgebauscht ausgelegt mit Abdeck- bzw. Malerfolie. Ungewöhnlich die Scheinwerfer: unter der Folie verteilt mit gelblichem und blauem Licht. Ungewöhnlich das Erzählen: die Schöpfungsgeschichte ohne ein Wort. Ungewöhnlich die Musikauswahl: psychedelisch anmutende, das Geschehen vorantreibende Klänge (u.a. von Robert Ames, Grace Jones, Björk, Klangforum Wien), denn Schöpfung ist keine stille Angelegenheit.
Das Publikum wird vor dem Eingang eingewiesen, achtsam Platz zu nehmen auf den Hockern.
An den Wänden stehen weiß gekleidete Gestalten mit fantasievollen Gesichtsverhüllungen aus Papier. Mit dem Einsetzen der Musik legen sie diese ab und kriechen aus allen Richtungen unter die Folie. Dort liegen sie erst mal unbewegt. Die Folie spannt über den Gesichtern, Atemnot verschafft sich ab und an Luft durch leichtes Anheben. Die Körper geraten in sanfte Kriechbewegungen. Amöben schlingern durch die „Ursuppe“. Allmähliche Annäherungen gehen über in Versuche, einen humanoiden Schöpfungsakt in Gang zu setzen. „Michelangelo-Finger“ bewegen sich aufeinander zu und lösen bei weit geöffneten Augen Lebendigkeitsschübe in den Körpern aus. Daraus entwickeln sich allmählich Lageveränderungen unter der Folie, die zu gegenseitig ausgeteilten Aggressionen eskalieren. Sogleich ist Gewalt geboren und konterkariert jegliche paradiesische Schöpfungsidylle. Die Jugendlichen gehen wieder in ihre Ausgangsstellung an den Wänden und setzen ihre „Masken“ auf. Alles kann von vorne beginnen und den ewigen Kreislauf fortdauern lassen.
Eine Stunde ohne Worte erzählt doch so stringent die Urgeschichte der Menschwerdung in ihren Transformationsstufen und lässt das Publikum aus geradezu bedrängender Nähe teilnehmen. Meine individuelle Lesart des Geschehens kann natürlich auch durch Alternativrezeptionen abgelöst werden, die lediglich eine künstlerisch-theatrale Performance oder ein ganzheitliches Aufführungserlebnis in hoher Ästhetik darstellen.
Große Kleinkunst, beglückend, bedrückend, begeisternd.
Metamorphosis
Unter- und Oberstufentheatergruppe des Reuchlin-Gymnasiums Ingolstadt
unter Leitung von Christian Albert
In einer Stunde die Welt erschaffen und danach sogar noch einen bedrückenden Ausblick auf den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen zu geben, war das in vielfacher Hinsicht ungewöhnliche Theatererlebnis, das die Gruppe aus Ingolstadt bescherte.
Ungewöhnlich der Raum: klein, im Keller gelegen. Ungewöhnlich die Platzierung des Publikums: verteilt über die Aktionsfläche auf Sitzhockern. Ungewöhnlich die Bühnengestaltung: aufgebauscht ausgelegt mit Abdeck- bzw. Malerfolie. Ungewöhnlich die Scheinwerfer: unter der Folie verteilt mit gelblichem und blauem Licht. Ungewöhnlich das Erzählen: die Schöpfungsgeschichte ohne ein Wort. Ungewöhnlich die Musikauswahl: psychedelisch anmutende, das Geschehen vorantreibende Klänge (u.a. von Robert Ames, Grace Jones, Björk, Klangforum Wien), denn Schöpfung ist keine stille Angelegenheit.
Das Publikum wird vor dem Eingang eingewiesen, achtsam Platz zu nehmen auf den Hockern.
An den Wänden stehen weiß gekleidete Gestalten mit fantasievollen Gesichtsverhüllungen aus Papier. Mit dem Einsetzen der Musik legen sie diese ab und kriechen aus allen Richtungen unter die Folie. Dort liegen sie erst mal unbewegt. Die Folie spannt über den Gesichtern, Atemnot verschafft sich ab und an Luft durch leichtes Anheben. Die Körper geraten in sanfte Kriechbewegungen. Amöben schlingern durch die „Ursuppe“. Allmähliche Annäherungen gehen über in Versuche, einen humanoiden Schöpfungsakt in Gang zu setzen. „Michelangelo-Finger“ bewegen sich aufeinander zu und lösen bei weit geöffneten Augen Lebendigkeitsschübe in den Körpern aus. Daraus entwickeln sich allmählich Lageveränderungen unter der Folie, die zu gegenseitig ausgeteilten Aggressionen eskalieren. Sogleich ist Gewalt geboren und konterkariert jegliche paradiesische Schöpfungsidylle. Die Jugendlichen gehen wieder in ihre Ausgangsstellung an den Wänden und setzen ihre „Masken“ auf. Alles kann von vorne beginnen und den ewigen Kreislauf fortdauern lassen.
Eine Stunde ohne Worte erzählt doch so stringent die Urgeschichte der Menschwerdung in ihren Transformationsstufen und lässt das Publikum aus geradezu bedrängender Nähe teilnehmen. Meine individuelle Lesart des Geschehens kann natürlich auch durch Alternativrezeptionen abgelöst werden, die lediglich eine künstlerisch-theatrale Performance oder ein ganzheitliches Aufführungserlebnis in hoher Ästhetik darstellen.
Große Kleinkunst, beglückend, bedrückend, begeisternd.
Fotos: Johannes Möhler
Das Leben – bitte(r) schön!
Fremde Heimat - Biografisches Theater
Mittel- und Oberstufentheatergruppe des Gymnasiums bei St. Stephan Augsburg
unter Leitung von Elke Sandler
Die Selbstdarstellungswelle auf Instagram, Tik Tok, Facebook ist ungebrochen und kapriziert sich vielfach auf eine oberflächliche Nabelschau, in der Persönliches unbekümmert preisgegeben wird. Der Impetus ist hierbei immer, Aufmerksamkeit zu erregen, Bedeutsamkeit zu erlangen. Warum also begab sich die Gruppe auf den Weg, ihrem Publikum Persönliches zu verraten, Einblick zu geben in die individuellen Lebensumstände? Die Gruppe geht tiefer und hat zudem nicht tausende von Followern vor Augen, sondern gibt sich mit einem überschaubaren Publikum zufrieden.
Ihr theatrales Reflektieren will sich auseinandersetzen mit fundamentalen Lebensfragen: Wer bin ich und woher komme ich? Wo fühle ich mich zugehörig und geborgen? Was gibt mir Halt? Welche Erlebnisse erschütterten meine Geborgenheit, mein Heimatgefühl? Schwerpunkte waren Vielfalt und Identität, Vertrauen und Verlust, Glück und Trauer, Heimat und Fremde. Geschichten finden theatrale Verfremdung vom Privaten distanziert, werden auf eine allgemeingültige Ebene gehoben.
So unterzieht sich eine Kleingruppe der alphabetisch geordneten Sammlung eigener Interessensschwerpunkte. Die jeweilige Herkunft zeigt die kulinarische Vielfalt der eigenen Küche bei unterschiedlichen Zubereitungen und Zutaten. Ein Mädchen stellt lakonisch fest, dass es in Kamerun Prinzessin sei, hier aber nur Gisha. Landestypische Gepflogenheiten, Kleidungsnotwendigkeiten provozieren eine Schneeballschlacht (mit Pappelementen). Und plötzlich wird’s hochpolitisch: Stadtbilder aus Kiew, Odessa und Charkiw sind der Hintergrund, vor dem einige Schülerinnen und Schüler Erinnerungen austauschen und ein wehmütiges ukrainisches Lied anstimmen. Daraus ergibt sich, darüber zu sprechen, was sie einst im Erwachsenenalter vergessen wollen. Mädchen drängen sich herein und geben nonverbale ergänzende Bewegungskommentare. Innere Monologe der Mädchen thematisieren das unangenehme Beobachtetwerden beim Joggen, münden in Klagen über häusliche Desolation und setzen ein Standbild zu Panikattacken. Nur kurz löst sich die Anspannung in fröhlich ausgelassenem Singen, um erneut auf Konfrontation mit dem Ernst des Lebens zu gehen. Nach dem theatralen Fallen vor der projizierten Stadtansicht von Mariupol hebt ein ukrainischer Junge in seiner Muttersprache an zu einer ergreifenden Klage und schreit seine innere Not heraus. Dazu braucht es keine Übersetzung, bis auf den Schlusssatz, Deutschland sei schön, aber er vermisse seine Heimat. Das Fremde wurde für ihn Heimat. Heimat zumindest in der Geborgenheit der Theatergruppe. Zum Schluss singt die Gruppe unter Gitarrenbegleitung die stille Antikriegshymne „Sag mir, wo die Blumen sind“. Blumen an der Bühnenrampe abgelegt sind Ausdruck ehrlicher jugendlicher Empathie, die das pessimistische Versinken im Gedanken der ewigen Wiederkehr von Krieg zu Krieg meidet.
Fremde Heimat - Biografisches Theater
Mittel- und Oberstufentheatergruppe des Gymnasiums bei St. Stephan Augsburg
unter Leitung von Elke Sandler
Die Selbstdarstellungswelle auf Instagram, Tik Tok, Facebook ist ungebrochen und kapriziert sich vielfach auf eine oberflächliche Nabelschau, in der Persönliches unbekümmert preisgegeben wird. Der Impetus ist hierbei immer, Aufmerksamkeit zu erregen, Bedeutsamkeit zu erlangen. Warum also begab sich die Gruppe auf den Weg, ihrem Publikum Persönliches zu verraten, Einblick zu geben in die individuellen Lebensumstände? Die Gruppe geht tiefer und hat zudem nicht tausende von Followern vor Augen, sondern gibt sich mit einem überschaubaren Publikum zufrieden.
Ihr theatrales Reflektieren will sich auseinandersetzen mit fundamentalen Lebensfragen: Wer bin ich und woher komme ich? Wo fühle ich mich zugehörig und geborgen? Was gibt mir Halt? Welche Erlebnisse erschütterten meine Geborgenheit, mein Heimatgefühl? Schwerpunkte waren Vielfalt und Identität, Vertrauen und Verlust, Glück und Trauer, Heimat und Fremde. Geschichten finden theatrale Verfremdung vom Privaten distanziert, werden auf eine allgemeingültige Ebene gehoben.
So unterzieht sich eine Kleingruppe der alphabetisch geordneten Sammlung eigener Interessensschwerpunkte. Die jeweilige Herkunft zeigt die kulinarische Vielfalt der eigenen Küche bei unterschiedlichen Zubereitungen und Zutaten. Ein Mädchen stellt lakonisch fest, dass es in Kamerun Prinzessin sei, hier aber nur Gisha. Landestypische Gepflogenheiten, Kleidungsnotwendigkeiten provozieren eine Schneeballschlacht (mit Pappelementen). Und plötzlich wird’s hochpolitisch: Stadtbilder aus Kiew, Odessa und Charkiw sind der Hintergrund, vor dem einige Schülerinnen und Schüler Erinnerungen austauschen und ein wehmütiges ukrainisches Lied anstimmen. Daraus ergibt sich, darüber zu sprechen, was sie einst im Erwachsenenalter vergessen wollen. Mädchen drängen sich herein und geben nonverbale ergänzende Bewegungskommentare. Innere Monologe der Mädchen thematisieren das unangenehme Beobachtetwerden beim Joggen, münden in Klagen über häusliche Desolation und setzen ein Standbild zu Panikattacken. Nur kurz löst sich die Anspannung in fröhlich ausgelassenem Singen, um erneut auf Konfrontation mit dem Ernst des Lebens zu gehen. Nach dem theatralen Fallen vor der projizierten Stadtansicht von Mariupol hebt ein ukrainischer Junge in seiner Muttersprache an zu einer ergreifenden Klage und schreit seine innere Not heraus. Dazu braucht es keine Übersetzung, bis auf den Schlusssatz, Deutschland sei schön, aber er vermisse seine Heimat. Das Fremde wurde für ihn Heimat. Heimat zumindest in der Geborgenheit der Theatergruppe. Zum Schluss singt die Gruppe unter Gitarrenbegleitung die stille Antikriegshymne „Sag mir, wo die Blumen sind“. Blumen an der Bühnenrampe abgelegt sind Ausdruck ehrlicher jugendlicher Empathie, die das pessimistische Versinken im Gedanken der ewigen Wiederkehr von Krieg zu Krieg meidet.
Fotos: Johannes Möhler