64. Theatertage der bayerischen Gymnasien, 20. bis 23. Juli 2022 in Aschaffenburg
Der Blick dahinter
„Re:Works Erwin Olaf“
Oberstufentheater des Ernst-Mach-Gymnasiums München-Haar unter Leitung von Thomas Ritter
Der Blick dahinter
„Re:Works Erwin Olaf“
Oberstufentheater des Ernst-Mach-Gymnasiums München-Haar unter Leitung von Thomas Ritter
Beginnen wir zunächst mal mit dem wenig poetischen Titel, der sich erklärt als „erneute Verwendung in veränderter Form.“ Was wurde erneut verwendet? Fotografien des niederländischen Fotografen Erwin Olaf (geb. 1959). Wie hat sich die Form verändert? Ja, in einem Kreativprozess entstand ein Theaterereignis, das im Schultheater selten ist, und das ich jetzt genauer beschreiben werde.
Die Gruppe besuchte die Fotoausstellung „Unheimlich schön“ mit Fotografien und Videos. Die Begegnung mit den Exponaten löste den Entschluss aus, sie theatral anzureichern. Schnell war erkannt worden, dass die Fotos inszeniert waren, raffinierte Geschichten erzählten, Rätsel aufgaben und somit ein großes Angebot für eigene Assoziationen und Interpretationen darstellten. Die Ausstellung fand 2021 in der Kunsthalle München statt und nun auch in Teilen (verändert) im Zuschauerraum und auf der Bühne des Stadttheaters Aschaffenburg.
Es beginnt die theatrale Umsetzung. Jugendliche sitzen verteilt im Zuschauerraum und halten jeweils auf ihrem Schoß ein gerahmtes Foto der Ausstellung von Erwin Olaf. Dazu beginnt ein Mädchen eine sachkundige Führung, wobei die erwähnten Bilder groß auf der Bühnenprojektionsfläche erscheinen: „Einsame Männer im Schwimmbad“ - Wasserdampf im Hallenbad, ein Mann sitzt rücklings am Beckeneinstieg, der muskulöse Rücken glänzt, unweit von ihm steht auf dem Ein-Meter-Brett ein venezianischer Weißclown und hält einen Brief in der Hand. Oder: „Awakening“ - Video mit fünf nackten Personen, die sich in Zeitlupe langsam aus der Bückhaltung aufrichten. Oder: „Clärchens Ballhaus“ - Dunkler Tanzsaal, in dem drei Mädchen an einem Tisch sitzen und auf ein anderes Mädchen schauen, das scheu über die Schulter ins Publikum blickt. Oder: „Berlin, Olympiastadion“ - Eine dunkle Gestalt geht eine unendlich scheinende Treppe hinauf aus der Dunkelheit ins Licht, ins Ungewisse. Die Gruppe Jugendlicher verteilt sich nun vor dieser Projektion und beginnt in Slow Motion den vermeintlichen Treppenaufstieg. Daraus entsteht ein Formationstanz, aus dem plötzlich ein Mädchen ausbricht und auf ein katafalkähnliches Podest am vorderen Bühnenrand zuläuft. Es wird von zwei Spitzhutgestalten gestoppt und zurückgehalten. Spitzhüte scheinen Erwin Olafs Lieblingskopfbedeckungen zu sein, denn auf dem nächsten Bild schiebt einsam ein Man mit seinem spitzen Hut den leeren Einkaufswagen über ein verlassenes Parkhausoberdeck. Vor der Projektion entfernen sich die beiden Gestalten mit ihren auffälligen Hüten. Nun bewegen sich ganz minimal in einem Video die Menschen einer Tischgesellschaft. Kein Ton. Alleinsein im Zusammensein. Das animiert die Gruppe, blitzschnell Papptisch und -stühle aufzustellen, Tischdecke drüber, und vier Personen sich zu setzen. Sie sprechen ohne jegliche Reaktion der anderen. Das artet aus in surrealistische Äußerungen (z.B.“Ein Stück Brot mit ohne Rinde“). Schließlich: „Die Rechnung bitte!“ Und das Tischtuch dient im Weggehen als Umhang.
Eine Frau sitzt verloren in einer düsteren Küche der 50er Jahre. Sie trägt ein weißes Kostüm und eine Brille und blickt zu Boden, ins Leere. Neben ihr auf dem Tisch eine Kaffeetasse und eine große Kanne. Vor dieser Projektion möchten ein Mann und eine Frau eine neue Küche kaufen. Sie berührt den Oberschenkel der sitzenden Frau. Eine Solidaritätsgeste oder flüchtige Geste des Mitgefühls? Die Frau des Paares bleibt zurück und sitz allein auf der Bühne.
In einem neuen, düsteren Bild sitzt ein Mädchen in Profilhaltung auf einer Couch und schaut zu Boden. Ihm gegenüber steht eine Frau, es könnte seine Mutter sein, und blickt zu ihm hinüber. Drei Jungs berühren auf der Leinwand den Rock des Mädchens. Daraufhin setzen sich sechs Mädchen auf Papphockern vor das Bild, während die Jungs abgehen. Und das Bild verschwimmt ganz langsam. Ein Video zeigt groß die Hand und den Arm einer Frau sowie das Gesicht eines Mannes. Zwei Mädchen fragen: „Wo bin ich? Wer bin ich?“ Sogleich erscheinen Gestalten in mannshohen Alu-Faltröhren, und die beiden Mädchen werden darin verschluckt. Magisches Geräusch.
Zwei Frauen sitzen getrennt jeweils allein an einem Restauranttisch und schauen wartend in die gleiche Richtung. Das Schwarzweißbild entzieht sich jeglicher Lebendigkeit. Dieser Ikone des stillen Wartens verleiht die Gruppe Bewegung und geht von einer zu anderen Bühnenseite durchs Bild, wechselt die Gangarten und Standpositionen und belebt somit das Restaurant.
Es könnte ein Szenenausschnitt aus einem amerikanischen 60er Jahre-Film sein: Ein spärlich beleuchteter Hotelflur. Eine Frau in gelbem Kleid lehnt an der Wand und blickt einen an. Ein Mann in Anzug und Mantel steht unweit und schaut schräg aus dem Bild. Keine Kommunikation, Anlass genug für die Gruppe, diese aufzunehmen.
Schon das nächste Bild: Ein Klassenzimmer wie aus einem Schulmuseum, kombinierte Bänke mit schrägen Tischplatten. An der Tafel Reste des Geometrieunterrichts. Der ältere Lehrer steht davor und blickt auf ein Mädchen in Schuluniform, es steht im Mittelgang, will den Raum verlassen, war wohl vom Lehrer gerufen worden. Wir können an einem fiktiven Gespräch über Zukunftspläne teilnehmen. Das Mädchen wird aus der Projektion ausgeblendet, dafür steht nun ein anderes zwischen fünf Jungs und legt auf dem schrägen Katafalk einen Blumenstrauß ab. Schicksalsschlag, Verlust eines geliebten Menschen, Trauer? Und da marschieren die Spielerinnen und Spieler militärisch zackig, alle rufen: „Jawohl!“ Befehlsgehorsam. Das Mädchen kniet nieder und nimmt den Blumenstrauß.
Eine Reihe nackter Personen, die ins Publikum blicken, wird von der Gruppe eingehend betrachtet. Aus dem Lautsprecher kommt die Frage: „Wie soll es weitergehen?“ Und die Antwort der Gruppe ist nur ein Wort: „Kapitulation!“ Das Publikum wird aufgefordert: „Sehen Sie uns an! Beachten Sie uns! Hier sind wir! ...“ Und zwei Olaf-Bilder beenden den theatralen Ausstellungsbesuch: Ein junges Mädchen, ebenso eine ältere Frau, jeweils im Profil bewegen langsam den Kopf, bis sie ins Publikum blicken. Da hat sich die Ausstellungssituation umgekehrt.
Die Gruppe hat ihr Stück als eines ohne Handlung, ohne Szenen, ohne Dialoge und ohne Theater angekündigt. Nach meinen näher beschriebenen Eindrücken kann ja jetzt jede(r) selbst entscheiden, inwieweit das alles zutrifft. Ich habe ungewöhnliches Theater erlebt, in dem Geschichten, die in allen Bildern steckten, erzählt wurden, sicherlich in großer verbaler Zurückgenommenheit, dafür in hoher, plausibler Bildausdeutung und einer spürbaren Zuneigung zu den Foto- und Videokunstwerken von Erwin Olaf. Das Schultheater bekam ein neues Format und bewies wieder einmal die Grenzenlosigkeit des theatralen Zugriffs.
Die Gruppe besuchte die Fotoausstellung „Unheimlich schön“ mit Fotografien und Videos. Die Begegnung mit den Exponaten löste den Entschluss aus, sie theatral anzureichern. Schnell war erkannt worden, dass die Fotos inszeniert waren, raffinierte Geschichten erzählten, Rätsel aufgaben und somit ein großes Angebot für eigene Assoziationen und Interpretationen darstellten. Die Ausstellung fand 2021 in der Kunsthalle München statt und nun auch in Teilen (verändert) im Zuschauerraum und auf der Bühne des Stadttheaters Aschaffenburg.
Es beginnt die theatrale Umsetzung. Jugendliche sitzen verteilt im Zuschauerraum und halten jeweils auf ihrem Schoß ein gerahmtes Foto der Ausstellung von Erwin Olaf. Dazu beginnt ein Mädchen eine sachkundige Führung, wobei die erwähnten Bilder groß auf der Bühnenprojektionsfläche erscheinen: „Einsame Männer im Schwimmbad“ - Wasserdampf im Hallenbad, ein Mann sitzt rücklings am Beckeneinstieg, der muskulöse Rücken glänzt, unweit von ihm steht auf dem Ein-Meter-Brett ein venezianischer Weißclown und hält einen Brief in der Hand. Oder: „Awakening“ - Video mit fünf nackten Personen, die sich in Zeitlupe langsam aus der Bückhaltung aufrichten. Oder: „Clärchens Ballhaus“ - Dunkler Tanzsaal, in dem drei Mädchen an einem Tisch sitzen und auf ein anderes Mädchen schauen, das scheu über die Schulter ins Publikum blickt. Oder: „Berlin, Olympiastadion“ - Eine dunkle Gestalt geht eine unendlich scheinende Treppe hinauf aus der Dunkelheit ins Licht, ins Ungewisse. Die Gruppe Jugendlicher verteilt sich nun vor dieser Projektion und beginnt in Slow Motion den vermeintlichen Treppenaufstieg. Daraus entsteht ein Formationstanz, aus dem plötzlich ein Mädchen ausbricht und auf ein katafalkähnliches Podest am vorderen Bühnenrand zuläuft. Es wird von zwei Spitzhutgestalten gestoppt und zurückgehalten. Spitzhüte scheinen Erwin Olafs Lieblingskopfbedeckungen zu sein, denn auf dem nächsten Bild schiebt einsam ein Man mit seinem spitzen Hut den leeren Einkaufswagen über ein verlassenes Parkhausoberdeck. Vor der Projektion entfernen sich die beiden Gestalten mit ihren auffälligen Hüten. Nun bewegen sich ganz minimal in einem Video die Menschen einer Tischgesellschaft. Kein Ton. Alleinsein im Zusammensein. Das animiert die Gruppe, blitzschnell Papptisch und -stühle aufzustellen, Tischdecke drüber, und vier Personen sich zu setzen. Sie sprechen ohne jegliche Reaktion der anderen. Das artet aus in surrealistische Äußerungen (z.B.“Ein Stück Brot mit ohne Rinde“). Schließlich: „Die Rechnung bitte!“ Und das Tischtuch dient im Weggehen als Umhang.
Eine Frau sitzt verloren in einer düsteren Küche der 50er Jahre. Sie trägt ein weißes Kostüm und eine Brille und blickt zu Boden, ins Leere. Neben ihr auf dem Tisch eine Kaffeetasse und eine große Kanne. Vor dieser Projektion möchten ein Mann und eine Frau eine neue Küche kaufen. Sie berührt den Oberschenkel der sitzenden Frau. Eine Solidaritätsgeste oder flüchtige Geste des Mitgefühls? Die Frau des Paares bleibt zurück und sitz allein auf der Bühne.
In einem neuen, düsteren Bild sitzt ein Mädchen in Profilhaltung auf einer Couch und schaut zu Boden. Ihm gegenüber steht eine Frau, es könnte seine Mutter sein, und blickt zu ihm hinüber. Drei Jungs berühren auf der Leinwand den Rock des Mädchens. Daraufhin setzen sich sechs Mädchen auf Papphockern vor das Bild, während die Jungs abgehen. Und das Bild verschwimmt ganz langsam. Ein Video zeigt groß die Hand und den Arm einer Frau sowie das Gesicht eines Mannes. Zwei Mädchen fragen: „Wo bin ich? Wer bin ich?“ Sogleich erscheinen Gestalten in mannshohen Alu-Faltröhren, und die beiden Mädchen werden darin verschluckt. Magisches Geräusch.
Zwei Frauen sitzen getrennt jeweils allein an einem Restauranttisch und schauen wartend in die gleiche Richtung. Das Schwarzweißbild entzieht sich jeglicher Lebendigkeit. Dieser Ikone des stillen Wartens verleiht die Gruppe Bewegung und geht von einer zu anderen Bühnenseite durchs Bild, wechselt die Gangarten und Standpositionen und belebt somit das Restaurant.
Es könnte ein Szenenausschnitt aus einem amerikanischen 60er Jahre-Film sein: Ein spärlich beleuchteter Hotelflur. Eine Frau in gelbem Kleid lehnt an der Wand und blickt einen an. Ein Mann in Anzug und Mantel steht unweit und schaut schräg aus dem Bild. Keine Kommunikation, Anlass genug für die Gruppe, diese aufzunehmen.
Schon das nächste Bild: Ein Klassenzimmer wie aus einem Schulmuseum, kombinierte Bänke mit schrägen Tischplatten. An der Tafel Reste des Geometrieunterrichts. Der ältere Lehrer steht davor und blickt auf ein Mädchen in Schuluniform, es steht im Mittelgang, will den Raum verlassen, war wohl vom Lehrer gerufen worden. Wir können an einem fiktiven Gespräch über Zukunftspläne teilnehmen. Das Mädchen wird aus der Projektion ausgeblendet, dafür steht nun ein anderes zwischen fünf Jungs und legt auf dem schrägen Katafalk einen Blumenstrauß ab. Schicksalsschlag, Verlust eines geliebten Menschen, Trauer? Und da marschieren die Spielerinnen und Spieler militärisch zackig, alle rufen: „Jawohl!“ Befehlsgehorsam. Das Mädchen kniet nieder und nimmt den Blumenstrauß.
Eine Reihe nackter Personen, die ins Publikum blicken, wird von der Gruppe eingehend betrachtet. Aus dem Lautsprecher kommt die Frage: „Wie soll es weitergehen?“ Und die Antwort der Gruppe ist nur ein Wort: „Kapitulation!“ Das Publikum wird aufgefordert: „Sehen Sie uns an! Beachten Sie uns! Hier sind wir! ...“ Und zwei Olaf-Bilder beenden den theatralen Ausstellungsbesuch: Ein junges Mädchen, ebenso eine ältere Frau, jeweils im Profil bewegen langsam den Kopf, bis sie ins Publikum blicken. Da hat sich die Ausstellungssituation umgekehrt.
Die Gruppe hat ihr Stück als eines ohne Handlung, ohne Szenen, ohne Dialoge und ohne Theater angekündigt. Nach meinen näher beschriebenen Eindrücken kann ja jetzt jede(r) selbst entscheiden, inwieweit das alles zutrifft. Ich habe ungewöhnliches Theater erlebt, in dem Geschichten, die in allen Bildern steckten, erzählt wurden, sicherlich in großer verbaler Zurückgenommenheit, dafür in hoher, plausibler Bildausdeutung und einer spürbaren Zuneigung zu den Foto- und Videokunstwerken von Erwin Olaf. Das Schultheater bekam ein neues Format und bewies wieder einmal die Grenzenlosigkeit des theatralen Zugriffs.
Wolfram Brüninghaus
Fotos: Bernhard Apel
Fotos: Bernhard Apel