Workshopbeschreibung:
Workshop 2 - Lorenz Hippe - Theater Direkt - das Theater der Zuschauer
Theater Direkt (Instant Theatre)
Bei dieser Form des aus England stammenden Improvisationstheaters erfindet das Publikum oder eine Gruppe eine eigene Geschichte und setzt sie szenisch um. Bei Theater Direkt (Instant Theatre) übernehmen die Teilnehmer/innen die inhaltliche Kontrolle. Grundidee des Begründers R.G. Gregory war es, die Gedanken und Phantasien der Gruppe durch die Hilfe der Spielleitung in einer kollektiven Autorenschaft sichtbar zu machen.
Im Workshop widmen wir uns folgenden Fragen:
Angelehnt an das Buch „Theater Direkt – das Theater der Zuschauer, ein Beitrag zur kollektiven Kreativität“ von Eva und Lorenz Hippe, Deutscher Theaterverlag 2011
(aus der Tischvorlage)
Bei dieser Form des aus England stammenden Improvisationstheaters erfindet das Publikum oder eine Gruppe eine eigene Geschichte und setzt sie szenisch um. Bei Theater Direkt (Instant Theatre) übernehmen die Teilnehmer/innen die inhaltliche Kontrolle. Grundidee des Begründers R.G. Gregory war es, die Gedanken und Phantasien der Gruppe durch die Hilfe der Spielleitung in einer kollektiven Autorenschaft sichtbar zu machen.
Im Workshop widmen wir uns folgenden Fragen:
- Wie erfindet man gemeinsam Geschichten?
- Wie kann man mit den entwickelten Stoffen kreativ weiterarbeiten?
- Welche Chancen bietet Partizipation in Lernprozessen und künstlerischen Projekten?
Angelehnt an das Buch „Theater Direkt – das Theater der Zuschauer, ein Beitrag zur kollektiven Kreativität“ von Eva und Lorenz Hippe, Deutscher Theaterverlag 2011
(aus der Tischvorlage)
Lorenz Hippe
Lorenz Hippe absolvierte Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen, arbeitete an verschiedenen Theatern und soziokulturellen Zentren als Theaterpädagoge, Dramaturg und Regisseur. Seit 2006 ist er Autor für professionelles Kinder- und Jugendtheater sowie als Dozent für Theaterpädagogik und Szenisches Schreiben bundesweit an Hochschulen und Instituten der Aus- und Weiterbildung tätig. Lorenz Hippe lebt in Berlin.
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Workshop-Bericht
Der Reiz des Ungewohnten oder: Neu ist schnell mal was
Eine einfache Übung: Die im Kreis sitzenden Teilnehmer*innen falten die Hände, so dass die Finger ineinander verschränkt sind. Interessant schon an dieser Stelle, dass bei den einen die linken Daumen oben liegen, bei den anderen die rechten. Jetzt sollen die Teilnehmer ihre Hände erneut falten, jedoch so, dass genau der andere Daumen oben liegt und die Finger entsprechend anders sortiert sind. Die Umfrage ergibt: Das fühlt sich komisch, ungewohnt, neu, seltsam… an.
Nachrichten aus der Lernforschung: Würde man die „ungewohnte“ Art des Händefaltens üben, würde das Fremdheitserlebnis wohl in einer Frist von drei Tagen bis drei Monaten verschwinden. Der Mensch lernt dann etwas, wenn das Neue in das Alte eindringt. Wenn jemand nur noch das Neue praktiziert, gibt es dabei auch nichts mehr zu lernen, dann wird das die neue Gewohnheit. Wer nur beim Alten bleibt, lernt nichts Neues. Wer sich nur mit Neuem beschäftigt, entwickelt sich auch nicht weiter. Auf den Gegensatz kommt es an.
Eine weitere einfache Übung: Die Teilnehmer*innen zeichnen mit der linken Hand einen Kreis in die Luft und mit der rechten Hand ein Kreuz. Eine Umfrage ergibt: Es gelingt nicht recht. Entweder gerät der Kreis eckig oder das Kreuz rundlich oder die Bewegungen verlaufen stockend und nicht fließend. Ähnliches geschieht, als die Teilnehmer mit dem Fuß ihren Namen in die Luft schreiben sollen, während sie mit einer Hand einen Kreis beschreiben. Das Scheitern ist vorprogrammiert, die Übung zeigt aber, dass eine langweilige Übung durch eine geringe Veränderung der Bedingungen wieder zur Herausforderung wird.
Warum diese Übungen vor der Arbeit mit der Methode „Direkt Theater“? Weil diese Arbeitsweise Fremdheitserfahrungen provoziert und weil es auch dabei darauf ankommt, sich trotzdem einzulassen und weiterzumachen.
Brauchbar oder nicht brauchbar? Unsere inneren Stimmen bewerten ständig
Ob sich etwas ungewohnt anfühlt, das entscheiden Instanzen in uns, die unsere Gedanken und Handlungen bewerten. Die Teilnehmer*innen suchen die Sätze, die sie beschränken und schreiben sie nieder: „Das wurde doch schon hunderttausendmal vorher gedacht“, „Das reicht doch alles nicht“, „Sowas versteht doch keiner“, „Du bist bestimmt der einzige, der so denkt“, „Das ist doch eine saublöde Idee“ und so weiter.
Die Sprechblasen werden vorgetragen, in nicht festgelegter, in der Gruppe erspürter Reihenfolge, denn beim Erfinden der Geschichte später organisiert sich die Gruppe auch selbst, ohne Aufrufen oder Absprache der Reihenfolge. Schließlich werden all diese Sätze, die die Gedankenfreiheit und Fantasie so sehr hemmen, in einen Schrank gelegt, wo sie für die weitere Arbeit erstmal bleiben sollen. Denn beim Erfinden der Geschichten im Theater Direkt sollen alle Einfälle zugelassen werden. Die wertenden Instanzen, unsere inneren Stimmen, sollen nun schweigen und dürfen erst später wieder ihr Urteil fällen.
Was gesagt ist, ist gesagt. Geschichten nehmen Fahrt auf
Besonders geeignet für große Gruppen sei die Methode „Theater Direkt“, so Spielleiter Hippe. Es gibt wenige Vorgaben: Die Geschichte soll eine Hauptperson haben, außerdem soll es eine Türe geben, durch die die Hauptfigur hindurchgehen muss / möchte / kann. Die Spielregel lautet: Was gesagt ist, ist gesagt und kann auch nicht mehr zurückgenommen werden.
Nun erfragt der Spielleiter in kleinen Schritten das Setting und den Ablauf der Geschichte. Die Teilnehmer*innen antworten spontan. Der Spielleiter fragt in dieser Reihenfolge: Wer ist die Hauptperson (Geschlecht, Alter, Name, evtl. Beruf), wann spielt die Geschichte (Jahreszeit, Tageszeit), wo spielt sie (von innen nach außen, Kameraeinstellung Closeup, dann Zoom, dann Totale), welches Wetter ist gerade, was passiert (der Hauptperson) als nächstes? Das Tempo ist ausgesprochen hoch, es gibt keine Zeit für längeres Nachdenken. Der Spielleiter stellt möglichst offene Fragen und fasst immer wieder einmal die bisher genannten Elemente der Geschichte zusammen, so weit wie möglich ohne Interpretation oder Wertung. Die Frage „Wie kam es dazu?“ dient dazu, Hintergründe des bisher Zusammengetragenen auszuloten. Widersprüche in der Geschichte soll die Gruppe selbst in der Antwort auf die Frage „Wie konnte es gleichzeitig sein, dass…“ klären, so lange, bis ein ausreichend klares Bild entsteht. Der Spielleiter bleibt mit seinem Interesse bei der Hauptperson und erfragt, was diese wahrnimmt. Er versteht sich als der Gruppe dienend: Die Geschichte gehört der Gruppe, der Spielleiter darf sie auf keinen Fall verfälschen und nach eigenem Gefallen Beiträge einbauen oder weglassen. Dabei ist eine hohe Merkfähigkeit gefragt, denn es darf kein Beitrag aus Versehen verloren gehen. Beim Zusammentragen der Geschichte in der Gruppe zeigen sich einzelne Teilnehmer*innen möglicherweise dominant und bringen viele Beiträge ein, während andere Teilnehmer*innen völlig schweigen. Jede/r kann allerdings selbst entscheiden, ob und wann er/sie sich einbringen möchte. So kann sich als Autor*in der Geschichte auch fühlen, wer keinen eigenen Beitrag geliefert hat.
Die Geschichte ist fertig: Katzenschlumpf und Katzenklappe
Die beim Workshop entstandene Geschichte erzählt von einem haarigen, neurotischen Katzenschlumpf, der sich immer die Mütze vom Kopf reißt und in einem Lebkuchenhaus auf der bewaldeten Insel Utopia lebt. Er ist schrecklich ängstlich. Er hat sich noch nie weiter von seinem Haus entfernt und weiß deshalb auch nicht, wie groß die Insel ist. Er ist 120 Jahre alt, so alt wie die 3 Meter hohe, 3 Meter breite und 3 Meter tiefe Flügeltür aus Schaumstoff, die sich in einer Felswand in der Nähe befindet. Die Türe ist eine Scheintüre, hat aber eine 1 m hohe Katzenklappe, durch die der Katzenschlumpf ab und zu Katzen schlüpfen sieht. Das Geheimnis der Türe ist, dass sie sich durch das Zauberwort Mutabor öffnen lässt, was der Katzenschlumpf aber nicht weiß. Zur Mittagszeit, bei trübem Wetter, jedoch bei 5 Grad mehr als sonst um diese Jahreszeit, ist die Katzenklappe allerdings nicht in der Türe, da sie einen Zweitjob hat, in der Küche des Schlosses hoch oben auf der Felswand. Dort spült die Katzenklappe immer ab 10:00 Uhr das Geschirr der vornehmen Gäste, die dort speisen. Besonders hervorstechend ist eine extrem verschmutzte Gabel. Es wachsen der Katzenklappe zum Abspülen Hände aus dem Schaumstoff, so dass sie ihre Arbeit erledigen kann. Störend ist dabei allerdings die fette Siamkatze Melanie Murr, die schrecklichen Hunger hat und leider nicht mehr durch die Katzenklappe passt. Sie schreit und klagt, dass sie gefangen ist. Schließlich schreibt sie einen Brief, den ein Rabe mitnimmt und beim Katzenschlumpf vor dem Lebkuchenhaus fallen lässt. Der ist überrascht und gerührt, dass er einen Brief bekommt. Nur kann er den Brief leider nicht lesen und weint darüber bitterlich.
Aus der Geschichte werden Szenen: Sogar Haare, blaue Farbe und Fettfleck treten auf
Während der Spielleiter in der sammelnden Phase die Gestaltung völlig der Gruppe überlässt und nur die entstandene Geschichte wiederholt, hat er in der Phase der Inszenierung die Möglichkeit, behutsam zu gestalten. Die Geschichte wird besetzt. Mit den Worten „Wir brauchen…“ lädt der Spielleiter die Teilnehmer*innen ein, Personen oder auch Gegenstände zu verkörpern, entsprechend auf der Bühne zu stellen und ggf. auch in Aktion miteinander zu treten. Zeitweise hilft auch die gesamte Gruppe mit, zum Beispiel dann, wenn es darum geht, z. B. den richtigen Schrei für die fette Siamkatze Melanie Murr zu finden. Da der Spielleiter zuvor durch seine Fragen die Geschichte voranbrachte, folgt die Gruppe nun auch bereitwillig seinen Regieanweisungen. Auf diese Weise wird die gesamte Geschichte noch einmal in Form von Konstellationen von Figuren auf der Bühne durchdekliniert.
Transformation: Was aus einer Geschichte alles werden kann
Ziemlich ergiebig ist der Katalog der gesellschaftlichen Probleme, die die Gruppe in der entstandenen Geschichte aufgegriffen sieht: Klimawandel, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, mangelnder Tierschutz, Übergewicht, Briefgeheimnis, Analphabetismus und vieles mehr. Jedes dieser Stichwörter würde es ermöglichen, die Geschichte aus dem jeweils besonderen Blickwinkel zu erzählen.
Der Spielleiter vergibt andere Vorschläge zur Weiterarbeit an die Teilnehmer*innen, die sich selbst die ihnen entsprechende Aufgabe suchen dürfen. Jede Gruppe bekommt einen klar formulierten Auftrag, wie sie vorgehen soll.
Sicherlich würden sich noch viele andere Möglichkeiten der Weiterarbeit in Form eines Gruppenauftrags finden lassen (z. B. Mauerschau, morphende Standbilder, Rap und vieles mehr.).
Bewertung der Methode Theater Direkt
Es war beeindruckend, wie schnell und mit wie viel Spaß hier in der Gruppe eine Geschichte erdacht wurde. Unter kühler Betrachtung war diese Geschichte zwar seltsam und nicht unbedingt schlüssig, sie bediente Klischees und erzählte holzschnittartig. - Sicherlich kommt bei einer längerfristig angelegten Arbeit mit dieser Methode ein Gruppenprozess in Gang: Wenn man Theater Direkt häufiger einsetzt, dürften die Geschichten wohl runder und geschlossener werden. Allerdings sollte man als Spielleiter zunächst immer völlig ohne Erwartungen ans Werk gehen. Es muss erlaubt sein, dass aus der Gruppe heraus auch schwierige oder politisch unkorrekte Einfälle einfließen, die dann erst in einer späteren Phase der Arbeit genauer betrachtet werden.
Bei der Erfindung von Geschichten in Dreiergruppen stellte sich heraus, dass die Teilnehmer*innen dabei unbewusst Themen offenbarten, die sie stark beschäftigten. Es ergab sich eine fast schon psychoanalytische Arbeit, die den Teilnehmer*innen sogar ermöglichte etwas über sich zu erfahren.
Geschickt setzte Lorenz Hippe die unterschiedlichen Phasen des Workshops mit dem erzählenden Bewegungslied „Sengaya Senga“ aus Tanzania voneinander ab.
Eine einfache Übung: Die im Kreis sitzenden Teilnehmer*innen falten die Hände, so dass die Finger ineinander verschränkt sind. Interessant schon an dieser Stelle, dass bei den einen die linken Daumen oben liegen, bei den anderen die rechten. Jetzt sollen die Teilnehmer ihre Hände erneut falten, jedoch so, dass genau der andere Daumen oben liegt und die Finger entsprechend anders sortiert sind. Die Umfrage ergibt: Das fühlt sich komisch, ungewohnt, neu, seltsam… an.
Nachrichten aus der Lernforschung: Würde man die „ungewohnte“ Art des Händefaltens üben, würde das Fremdheitserlebnis wohl in einer Frist von drei Tagen bis drei Monaten verschwinden. Der Mensch lernt dann etwas, wenn das Neue in das Alte eindringt. Wenn jemand nur noch das Neue praktiziert, gibt es dabei auch nichts mehr zu lernen, dann wird das die neue Gewohnheit. Wer nur beim Alten bleibt, lernt nichts Neues. Wer sich nur mit Neuem beschäftigt, entwickelt sich auch nicht weiter. Auf den Gegensatz kommt es an.
Eine weitere einfache Übung: Die Teilnehmer*innen zeichnen mit der linken Hand einen Kreis in die Luft und mit der rechten Hand ein Kreuz. Eine Umfrage ergibt: Es gelingt nicht recht. Entweder gerät der Kreis eckig oder das Kreuz rundlich oder die Bewegungen verlaufen stockend und nicht fließend. Ähnliches geschieht, als die Teilnehmer mit dem Fuß ihren Namen in die Luft schreiben sollen, während sie mit einer Hand einen Kreis beschreiben. Das Scheitern ist vorprogrammiert, die Übung zeigt aber, dass eine langweilige Übung durch eine geringe Veränderung der Bedingungen wieder zur Herausforderung wird.
Warum diese Übungen vor der Arbeit mit der Methode „Direkt Theater“? Weil diese Arbeitsweise Fremdheitserfahrungen provoziert und weil es auch dabei darauf ankommt, sich trotzdem einzulassen und weiterzumachen.
Brauchbar oder nicht brauchbar? Unsere inneren Stimmen bewerten ständig
Ob sich etwas ungewohnt anfühlt, das entscheiden Instanzen in uns, die unsere Gedanken und Handlungen bewerten. Die Teilnehmer*innen suchen die Sätze, die sie beschränken und schreiben sie nieder: „Das wurde doch schon hunderttausendmal vorher gedacht“, „Das reicht doch alles nicht“, „Sowas versteht doch keiner“, „Du bist bestimmt der einzige, der so denkt“, „Das ist doch eine saublöde Idee“ und so weiter.
Die Sprechblasen werden vorgetragen, in nicht festgelegter, in der Gruppe erspürter Reihenfolge, denn beim Erfinden der Geschichte später organisiert sich die Gruppe auch selbst, ohne Aufrufen oder Absprache der Reihenfolge. Schließlich werden all diese Sätze, die die Gedankenfreiheit und Fantasie so sehr hemmen, in einen Schrank gelegt, wo sie für die weitere Arbeit erstmal bleiben sollen. Denn beim Erfinden der Geschichten im Theater Direkt sollen alle Einfälle zugelassen werden. Die wertenden Instanzen, unsere inneren Stimmen, sollen nun schweigen und dürfen erst später wieder ihr Urteil fällen.
Was gesagt ist, ist gesagt. Geschichten nehmen Fahrt auf
Besonders geeignet für große Gruppen sei die Methode „Theater Direkt“, so Spielleiter Hippe. Es gibt wenige Vorgaben: Die Geschichte soll eine Hauptperson haben, außerdem soll es eine Türe geben, durch die die Hauptfigur hindurchgehen muss / möchte / kann. Die Spielregel lautet: Was gesagt ist, ist gesagt und kann auch nicht mehr zurückgenommen werden.
Nun erfragt der Spielleiter in kleinen Schritten das Setting und den Ablauf der Geschichte. Die Teilnehmer*innen antworten spontan. Der Spielleiter fragt in dieser Reihenfolge: Wer ist die Hauptperson (Geschlecht, Alter, Name, evtl. Beruf), wann spielt die Geschichte (Jahreszeit, Tageszeit), wo spielt sie (von innen nach außen, Kameraeinstellung Closeup, dann Zoom, dann Totale), welches Wetter ist gerade, was passiert (der Hauptperson) als nächstes? Das Tempo ist ausgesprochen hoch, es gibt keine Zeit für längeres Nachdenken. Der Spielleiter stellt möglichst offene Fragen und fasst immer wieder einmal die bisher genannten Elemente der Geschichte zusammen, so weit wie möglich ohne Interpretation oder Wertung. Die Frage „Wie kam es dazu?“ dient dazu, Hintergründe des bisher Zusammengetragenen auszuloten. Widersprüche in der Geschichte soll die Gruppe selbst in der Antwort auf die Frage „Wie konnte es gleichzeitig sein, dass…“ klären, so lange, bis ein ausreichend klares Bild entsteht. Der Spielleiter bleibt mit seinem Interesse bei der Hauptperson und erfragt, was diese wahrnimmt. Er versteht sich als der Gruppe dienend: Die Geschichte gehört der Gruppe, der Spielleiter darf sie auf keinen Fall verfälschen und nach eigenem Gefallen Beiträge einbauen oder weglassen. Dabei ist eine hohe Merkfähigkeit gefragt, denn es darf kein Beitrag aus Versehen verloren gehen. Beim Zusammentragen der Geschichte in der Gruppe zeigen sich einzelne Teilnehmer*innen möglicherweise dominant und bringen viele Beiträge ein, während andere Teilnehmer*innen völlig schweigen. Jede/r kann allerdings selbst entscheiden, ob und wann er/sie sich einbringen möchte. So kann sich als Autor*in der Geschichte auch fühlen, wer keinen eigenen Beitrag geliefert hat.
Die Geschichte ist fertig: Katzenschlumpf und Katzenklappe
Die beim Workshop entstandene Geschichte erzählt von einem haarigen, neurotischen Katzenschlumpf, der sich immer die Mütze vom Kopf reißt und in einem Lebkuchenhaus auf der bewaldeten Insel Utopia lebt. Er ist schrecklich ängstlich. Er hat sich noch nie weiter von seinem Haus entfernt und weiß deshalb auch nicht, wie groß die Insel ist. Er ist 120 Jahre alt, so alt wie die 3 Meter hohe, 3 Meter breite und 3 Meter tiefe Flügeltür aus Schaumstoff, die sich in einer Felswand in der Nähe befindet. Die Türe ist eine Scheintüre, hat aber eine 1 m hohe Katzenklappe, durch die der Katzenschlumpf ab und zu Katzen schlüpfen sieht. Das Geheimnis der Türe ist, dass sie sich durch das Zauberwort Mutabor öffnen lässt, was der Katzenschlumpf aber nicht weiß. Zur Mittagszeit, bei trübem Wetter, jedoch bei 5 Grad mehr als sonst um diese Jahreszeit, ist die Katzenklappe allerdings nicht in der Türe, da sie einen Zweitjob hat, in der Küche des Schlosses hoch oben auf der Felswand. Dort spült die Katzenklappe immer ab 10:00 Uhr das Geschirr der vornehmen Gäste, die dort speisen. Besonders hervorstechend ist eine extrem verschmutzte Gabel. Es wachsen der Katzenklappe zum Abspülen Hände aus dem Schaumstoff, so dass sie ihre Arbeit erledigen kann. Störend ist dabei allerdings die fette Siamkatze Melanie Murr, die schrecklichen Hunger hat und leider nicht mehr durch die Katzenklappe passt. Sie schreit und klagt, dass sie gefangen ist. Schließlich schreibt sie einen Brief, den ein Rabe mitnimmt und beim Katzenschlumpf vor dem Lebkuchenhaus fallen lässt. Der ist überrascht und gerührt, dass er einen Brief bekommt. Nur kann er den Brief leider nicht lesen und weint darüber bitterlich.
Aus der Geschichte werden Szenen: Sogar Haare, blaue Farbe und Fettfleck treten auf
Während der Spielleiter in der sammelnden Phase die Gestaltung völlig der Gruppe überlässt und nur die entstandene Geschichte wiederholt, hat er in der Phase der Inszenierung die Möglichkeit, behutsam zu gestalten. Die Geschichte wird besetzt. Mit den Worten „Wir brauchen…“ lädt der Spielleiter die Teilnehmer*innen ein, Personen oder auch Gegenstände zu verkörpern, entsprechend auf der Bühne zu stellen und ggf. auch in Aktion miteinander zu treten. Zeitweise hilft auch die gesamte Gruppe mit, zum Beispiel dann, wenn es darum geht, z. B. den richtigen Schrei für die fette Siamkatze Melanie Murr zu finden. Da der Spielleiter zuvor durch seine Fragen die Geschichte voranbrachte, folgt die Gruppe nun auch bereitwillig seinen Regieanweisungen. Auf diese Weise wird die gesamte Geschichte noch einmal in Form von Konstellationen von Figuren auf der Bühne durchdekliniert.
Transformation: Was aus einer Geschichte alles werden kann
Ziemlich ergiebig ist der Katalog der gesellschaftlichen Probleme, die die Gruppe in der entstandenen Geschichte aufgegriffen sieht: Klimawandel, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, mangelnder Tierschutz, Übergewicht, Briefgeheimnis, Analphabetismus und vieles mehr. Jedes dieser Stichwörter würde es ermöglichen, die Geschichte aus dem jeweils besonderen Blickwinkel zu erzählen.
Der Spielleiter vergibt andere Vorschläge zur Weiterarbeit an die Teilnehmer*innen, die sich selbst die ihnen entsprechende Aufgabe suchen dürfen. Jede Gruppe bekommt einen klar formulierten Auftrag, wie sie vorgehen soll.
- Lied: Jeder in der Gruppe erfindet zu der Geschichte zwei Zeilen eines Liedes. Die Zeilen sollen dann zu einem Lied zusammengestellt werden.
- Tanz: Jeder in der Gruppe erinnert sich an zwei Bewegungen aus der Handlung der Geschichte. Die gefundenen Bewegungsmuster sollen zusammengebaut werden.
- Gedicht: Ein Aspekt der Geschichte wird Thema eines Gedichts.
- Literarisches Quartett: Eine Gruppe inszeniert ein Gespräch über die gefundene Geschichte im Talkshow- Stil.
- Textgattungen: Je ein/e Teilnehmer*in wählt eine bestimmte Textgattung und schreibt die Geschichte entsprechend um (z. B. Sportreportage).
- Dramatisierung: Eine Gruppe wählt eine kleine Szene aus der Geschichte und entwickelt daraus einen Dialog und ggf. eine kleine Handlung.
Sicherlich würden sich noch viele andere Möglichkeiten der Weiterarbeit in Form eines Gruppenauftrags finden lassen (z. B. Mauerschau, morphende Standbilder, Rap und vieles mehr.).
Bewertung der Methode Theater Direkt
Es war beeindruckend, wie schnell und mit wie viel Spaß hier in der Gruppe eine Geschichte erdacht wurde. Unter kühler Betrachtung war diese Geschichte zwar seltsam und nicht unbedingt schlüssig, sie bediente Klischees und erzählte holzschnittartig. - Sicherlich kommt bei einer längerfristig angelegten Arbeit mit dieser Methode ein Gruppenprozess in Gang: Wenn man Theater Direkt häufiger einsetzt, dürften die Geschichten wohl runder und geschlossener werden. Allerdings sollte man als Spielleiter zunächst immer völlig ohne Erwartungen ans Werk gehen. Es muss erlaubt sein, dass aus der Gruppe heraus auch schwierige oder politisch unkorrekte Einfälle einfließen, die dann erst in einer späteren Phase der Arbeit genauer betrachtet werden.
Bei der Erfindung von Geschichten in Dreiergruppen stellte sich heraus, dass die Teilnehmer*innen dabei unbewusst Themen offenbarten, die sie stark beschäftigten. Es ergab sich eine fast schon psychoanalytische Arbeit, die den Teilnehmer*innen sogar ermöglichte etwas über sich zu erfahren.
Geschickt setzte Lorenz Hippe die unterschiedlichen Phasen des Workshops mit dem erzählenden Bewegungslied „Sengaya Senga“ aus Tanzania voneinander ab.
Bernhard Apel